Abschied vom demokratischen Anstand? –
noch ein Nachruf
Vor wenigen Stunden wurde der Tod der
alten Dame bekanntgegeben, der mich mehr trifft als das Sterben anderer, nicht
weniger prominenter Menschen in diesem
Jahr. Und fast zwangsläufig drängt sich
bei dem Namen Hildegard Hamm-Brücher die Erinnerung auf an jenen Herbst und
Winter der „geistig-moralischen Wende“ – denn eine solche Wende war es
tatsächlich, wenn auch kaum zum Positiven, wie Helmut Kohl es meinte.
Die öffentlichen Vorgänge sind bekannt
oder doch nachzulesen und zu sehen, Dokumente und Dokumentationen gibt es
reichlich. Ob meine privaten Erinnerungen da von Interesse sind? Möglich, daß
manch eine/r meiner Generation das damals ähnlich empfunden hat – ich war 1982
grade mal 15 und nicht wirklich interessiert und schon gar nicht reif genug,
die Vorgänge zu erfassen und einzuordnen. Was geblieben ist, ist die Stimmung
der Eltern, „kleine Leute“, SPD-Wähler – natürlich, möchte man fast sagen. Was
geblieben ist und in den folgenden Jahren unter Kohl gefestigt wurde, ist das Gefühl:
dieser Machtwechsel war der Beginn des Abschieds von demokratischem Anstand.
Vom Odium
des verletzten demokratischen Anstands sprach Hildegard Hamm-Brücher in ihrer
Rede zum Mißtrauenvotum im Oktober 1982. Ein Machtwechsel, ohne den Wähler zu
befragen. „Dieser
Regierungswechsel, den Sie anstreben, berührt die Glaubwürdigkeit unserer
demokratischen Institutionen.“ formulierte es Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Gesprochen wurde familienintern in den darauf folgenden Wochen und
Monaten vom Wendehals Genscher, von Vertrauensbruch, von Verrat am demokratischen
Gedanken um der Macht willen. Und die FDP war von da an – und ist es bis heute
geblieben – keine wählbare Alternative mehr. Die CDU war das sowieso nie.
Es folgten 16 Jahre Kohl, wohl unnötig, hier Affären und Skandale
aufzuzählen, dieses Gefühl der Lähmung zu beschreiben, das nicht nur meine Familie
und ich in diesen Jahren empfanden – die Freude über die Wiedervereinigung war
denn auch nur von kurzer Dauer, zu schnell wurde die DDR „aufgekauft“, blühende
Landschaften versprochen, auf die mancher bis heute wartet. Und auch die mit
Hoffnungen und Erwartungen begrüßte rotgrüne Koalition konnte einmal verlorenes
Vertrauen nicht wieder herstellen.
Gestern ging eine Dame. Eine der ersten Frauen, die die Politik der Bundesrepublik mitgestalteten und prägten - eine der Menschen, die mir vermittelten, daß Politik eine Sache von Moral und Anstand, von Humanität und Integrität sein sollte. Eine der letzten, die vertrauenswürdig und glaubwürdig war. Ich wünschte mir anstelle der Nachrufe: Hört einfach zu, denkt drüber nach und begreift.
Auch die, die ihr gewählt werden wollt. Es geht heute mehr denn je
um unsere Demokratie. Und darum, anständig zu sein.
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